Verstoßzeitpunkt nach ARB und Vorvertraglichkeit
Ereignisse, die zwar den Versicherungsnehmer in irgendeiner Weise persönlich oder wirtschaftlich berühren, bei denen aber von vornherein feststeht, dass sie seine Rechtslage nicht verändert haben können, stellen den Eintritt des Versicherungsfalls nicht dar, weil noch gar nicht feststeht, ob sie überhaupt zum Tragen kommen.
Sachverhalt
Der Bruder des Klägers gab im Jahr 1989 einen Pflichtteilsverzicht gegenüber ihrer Mutter ab, welcher im Zeitpunkt ihres Ablebens im März 2018 noch aufrecht war. Die Mutter setzte in ihrem Testament ihre Tochter als Haupterbin ein und verfügte hinsichtlich des Bruders des Klägers, dass dieser den Schenkungspflichtteil bekommt. Im Juli 2018 wurde die Verlassenschaft rechtskräftig eingeantwortet.
Der Bruder des Klägers verstarb im Februar 2019. Mit rechtskräftigem Einantwortungsbeschluss von Jänner 2021 wurde dem Kläger die Verlassenschaft nach seinem Bruder zur Gänze eingeantwortet.
In Folge machte der Kläger eine Forderung iHv rd EUR 1,3 Mio gegenüber der Schwester geltend. Nach Ansicht des Klägers sei sein Bruder aufgrund des Testaments der Mutter Vermächtnisnehmer gewesen, wobei das Recht auf dieses Vermächtnis mit dem Todestag der Mutter entstanden und gleichzeitig auch dessen Fälligkeit eingetreten sei. Als Gesamtrechtsnachfolger seines Bruders sei der Kläger zur Geltendmachung gegenüber der Erbin berechtigt. Die Schwester bestreitet einen Vermächtnisanspruch des Bruders, da dieser aufgrund seines umfassenden Pflichtteilsverzichts keinen Pflichtteilsanspruch mehr gehabt habe. Zudem sei ein Pflichtteilsergänzungsanspruch der Schwester im reinen Nachlass nicht gedeckt, sodass dieser vor einem allfälligen Vermächtnisanspruch zu decken wäre.
Der Kläger ist bei der Beklagten seit 20. 10. 2016 rechtsschutzversichert. Die Beklagte lehnte einen Deckungsanspruch des Klägers ab, da der Versicherungsfall mit dem Tod der Mutter verwirklicht worden sei. Der behauptete Vermächtnisanspruch sei originär nicht beim nunmehrigen Kläger eingetreten. Der Erbverzicht von Februar 1989 sowie das Testament der gemeinsamen Mutter von 8. Oktober 2016 seien als Keim des Konflikts vorvertraglich.
Relevante Bestimmungen der ARB 2016
Art 2 – Was gilt als Versicherungsfall und wann gilt er als eingetreten?
3. In den übrigen Fällen – insbesondere auch für die Geltendmachung eines reinen Vermögensschadens (Art 17.2.1, Art 18.2.1 und Art 19.2.1), sowie für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen wegen reiner Vermögensschäden (Art 17.2.4, Art 23.2.1 und Art 24.2.1.1) – gilt als Versicherungsfall der tatsächliche oder behauptete Verstoß des Versicherungsnehmers, Gegners oder eines Dritten gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften; der Versicherungsfall gilt in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem eine der genannten Personen begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen. Bei mehreren Verstößen ist der erste, adäquat ursächliche Verstoß maßgeblich, wobei Verstöße, die länger als ein Jahr vor Versicherungsbeginn zurückliegen, für die Feststellung des Versicherungsfalls außer Betracht bleiben.
Art 3 – Für welchen Zeitraum gilt die Versicherung? (Zeitlicher Geltungsbereich)
1. Die Versicherung erstreckt sich grundsätzlich auf Versicherungsfälle, die während der Laufzeit des Versicherungsvertrages eintreten.
2. Löst eine Willenserklärung oder Rechtshandlung des Versicherungsnehmers, des Gegners oder eines Dritten, die vor Versicherungsbeginn vorgenommen wurde, den Versicherungsfall gemäß Artikel 2.3 aus, besteht kein Versicherungsschutz. Willenserklärungen oder Rechtshandlungen, die länger als ein Jahr vor Versicherungsbeginn vorgenommen wurden, bleiben dabei außer Betracht.
OGH-Entscheidung
Unstrittig ist, dass für die Beurteilung des Vorliegens des Versicherungsfalls Art 2.3 ARB maßgeblich ist.
Bei Art 3.2 ARB handelt es sich um einen zeitlichen Risikoausschluss. Er begründet eine Erweiterung der Vorvertraglichkeit, wenn eine Willenserklärung oder Rechtshandlung, die vor Beginn des Versicherungsschutzes vorgenommen wurde, den späteren Verstoß ausgelöst hat. Die Willenserklärung oder Rechtshandlung, die den Streit auslöst, muss streng von dem für den Eintritt des Versicherungsfalls maßgeblichen Verstoß unterschieden werden.
Der Ausschluss des Art 3.2 ARB greift dann, wenn die Willenserklärung oder Rechtshandlung ihrer Natur nach erfahrungsgemäß den Keim eines nachfolgenden Rechtsstreits bereits in sich trägt (vgl RS0114210). Selbstverständlich ist, dass nicht jeder noch so ferne Zusammenhang des Rechtsstreits mit der Willenserklärung ausreicht. Vielmehr muss der Rechtsstreit geradezu typische Folge der Willenserklärung sein (vgl 7 Ob 66/18h).
Nach Ansicht des OGH stellt ein Versicherungsfall ein solches Ereignis dar, das die Rechtslage des Versicherungsnehmers ändert. Ereignisse, die zwar den Versicherungsnehmer in irgendeiner Weise persönlich oder wirtschaftlich berühren, bei denen aber von vornherein feststeht, dass sie seine Rechtslage nicht verändert haben können, wie etwa testamentarische Erbeinsetzung oder Enterbung des Versicherungsnehmers durch einen voraussichtlichen künftigen Erblasser, stellen daher den Eintritt des Versicherungsfalls nicht dar, weil noch gar nicht feststeht, ob sie nach dem Tod des Erblassers überhaupt zum Tragen kommen (7 Ob 43/00z; 7 Ob 236/08v).
Der Vermächtnisnehmer erhält durch die letztwillige Verfügung einen Titel, der ihm einen schuldrechtlichen Anspruch auf Leistung gewährt (RS0109864). Hier wird die Wirksamkeit des Testaments der Mutter nicht bestritten, sondern der Versicherungsnehmer beabsichtigt die Geltendmachung eines – im Erbweg auf ihn übergegangenen – Vermächtnisses gegen die Erbin. In einem solchen Fall liegt der behauptete Verstoß und damit der Versicherungsfall nach Art 2.3 ARB in der – nach der erstmaligen Geltendmachung durch den Versicherungsnehmer – erfolgten Ablehnung der darauf gegründeten Zahlung durch die Erbin, weil sich erst dann die vom Rechtsschutzversicherer übernommene Gefahr konkret zu verwirklichen beginnt. Die Beklagte hat daher Deckung zu gewähren.
Darauf, dass das Testament der Mutter die Willenserklärung nach Art 3.2 ARB darstelle, die den Versicherungsfall ausgelöst haben soll, berief sich die Beklagte erstmals – und damit gegen das Neuerungsverbot verstoßend – in der Berufung. Das Berufungsgericht beurteilte die vorliegende Streitsache insoweit rechtlich unrichtig, als es einen nicht vorgebrachten Risikoausschluss bejahte. Da das erstmals in der Berufung erstattete Vorbringen nicht zu beachten ist, erübrigt sich ein weiteres Eingehen auf die Frage, ob das Testament der Mutter eine Willenserklärung nach Art 3.2 ARB darstellt.
Anmerkung
Der vom OGH aufgrund des Verstoßes gegen das Neuerungsverbotes nicht behandelten Frage, ob das Testament der Mutter eine Willenserklärung nach Art 3.2 ARB darstellt, sollte jedoch für gleichlautende Fälle beachtet werden:
Das Testament der Mutter vom 8. 10. 2016 sei laut Brufungsgericht noch nicht als Verstoß zu qualifizieren (mit der Errichtung dieses Testaments habe sie keine Rechtspflicht oder Rechtsvorschrift verletzt). Ihre Willenserklärung aber, die ein Kind als Erbe einsetze und verfüge, dass ein anderes Kind, das einen Pflichtteilsverzicht abgegeben hatte „den Schenkungspflichtteil erhalten“ solle, trage erfahrungsgemäß den Keim eines nachfolgenden Rechtsverstoßes im Zusammenhang mit Streitigkeiten zwischen den Geschwistern auf Zahlung daraus resultierender (behaupteter) Ansprüche geradezu typischerweise in sich. Diese (testamentarische) Willenserklärung der Mutter habe den behaupteten Verstoß der (nicht zahlenden) Schwester auch adäquat verursacht. Dieses – in seiner Bedeutung strittige und den zu deckenden Rechtsstreit auslösende – Testament der Mutter datiere vom 8. 10. 2016 und führe aufgrund des erst späteren Versicherungsbeginns am
Blog-Beitrag gemeinsam erstellt mit Julia Loisl.