Spätrücktritt: Beschränkung auf Rückkaufswert unionsrechtswidrig
§ 176 Abs 1 VersVG idgF ist als unionsrechtswidrig zu qualifizieren. Dieser entspricht vielmehr wörtlich dem § 176 Abs 1 VersVG idF BGBl 509/1994, sodass die bisherige Rechtsprechung zum Spätrücktritt anzuwenden und die Beschränkung auf den Rückkaufswert im Fall eines Rücktritts jedenfalls unzulässig ist.
Die Klägerin ist Verbraucherin und schloss mit der Beklagten im Jahr 2008 eine kapitalbildende Lebensversicherung mit der Laufzeit von 1. März 2008 bis Ende Februar 2030 ab. Mit Schreiben vom 20. April 2020 erklärte die Klägerin gegenüber der Beklagten den Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag.
Sie brachte vor, sie sei nicht über ihr Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG (jetzt § 5c VersVG) aufgeklärt worden und habe aufgrund ihres Rücktritts Anspruch auf Rückzahlung der gesamten von ihr bezahlten Prämien samt 4 % Zinsen aus den jeweiligen Prämien seit 1. März 2008.
Die Beklagte beantragte Klagsabweisung und wandte – soweit für das Revisionsverfahren relevant – ein, bei einem Spätrücktritt nach fünf Jahren stehe nur der Rückkaufswert zu. Die Neuregelung in § 176 Abs 1a VersVG sei nicht unionsrechtswidrig, weil sie ein in zeitlicher Hinsicht abgestuftes System für Rücktritte vorsehe, das sowohl die Interessen der Versicherten wie auch des Versicherers berücksichtige.
Gesetzesentwicklung und EuGH
- § 176 VersVG in der im BGBl 509/1994 kundgemachten Fassung bestimmte:
„(1) Wird eine Kapitalversicherung für den Todesfall, die in der Art genommen ist, dass der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers zur Zahlung des vereinbarten Kapitals gewiss ist, durch Rücktritt, Kündigung oder Anfechtung aufgehoben, so hat der Versicherer den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert zu erstatten.“
Als Reaktion auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 19. Dezember 2013, C-209/12, Endress/Allianz, die dem Versicherungsnehmer die Ausübung des Rücktrittsrechts bei unterbliebener Belehrung auch noch nach Ablauf der hierfür im Unionsrecht vorgesehenen Frist von höchstens 30 Tagen gestattet hatte, novellierte der österreichische Gesetzgeber § 176 VersVG. Dieser lautet nunmehr:
„(1) Wird eine Kapitalversicherung für den Todesfall, die in der Art genommen ist, dass der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers zur Zahlung des vereinbarten Kapitals gewiss ist, durch Rücktritt, Kündigung oder Anfechtung aufgehoben, so hat der Versicherer den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert zu erstatten.
(1a) Sind nicht alle Voraussetzungen für den Beginn der Rücktrittsfrist gemäß § 5c Abs. 2 erfüllt, so gebührt dem Versicherungsnehmer bei einem Rücktritt von einer Kapitalversicherung
– innerhalb eines Jahres nach Vertragsabschluss die für das erste Jahr gezahlten Prämien;
– ab dem zweiten bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss der Rückkaufswert ohne Berücksichtigung der tariflichen Abschlusskosten und des Abzugs gemäß § 176 Abs. 4. Trägt der Versicherungsnehmer das Veranlagungsrisiko, so kann der Versicherer allfällige bis zum Rücktritt eingetretene Veranlagungsverluste berücksichtigen.“
Der EuGH kam zum Ergebnis, dass Art 15 Abs 1 der Richtlinie 90/619, Art 35 Abs 1 der Richtlinie 2002/83 und Art 185 Abs 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat.
Da im österreichischen VersVG die Rechtswirkungen für den Fall, dass dem Versicherungsnehmer keine oder fehlerhafte Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden, nicht geregelt waren, kam der OGH zum Ergebnis, dass bei richtlinienkonformer Auslegung des nationalen österreichischen Rechts ein Rücktritt des Versicherungsnehmers nicht die Rechtsfolgen nach § 176 VersVG auslöst, sondern zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags zu führen hat (7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 19/20z; ua).
OGH-Entscheidung
Mit der im Entscheidungszeitpunkt geltenden Rechtslage (§ 176 ABGB idF BGBl I 51/2018) hat sich der OGH bislang nicht auseinandergesetzt.
Aus § 176 Abs 1a iVm § 176 Abs 1 VersVG folgt, dass der Versicherungsnehmer bei einem Rücktritt von einer kapitalbildenden Lebensversicherung nach Ablauf von fünf Jahren ab Vertragsabschluss den Rückkaufswert erhält, der sich nach den allgemeinen Bestimmungen des § 176 Abs 3 bis Abs 5 VersVG berechnet.
Der Gesetzgeber hat mit der Novelle nur bei einem „Spätrücktritt“ bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss die Rechtsfolgen neu geregelt. Für den darüber hinausgehenden Zeitraum schuf er hingegen keine neue Rechtsfolgenregelung, sodass die bisherige Rechtsprechung (7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 19/20z; ua) anzuwenden ist.
Da nach dieser Judikatur die Beschränkung auf den Rückkaufswert im Fall eines Rücktritts jedenfalls unzulässig ist, ist auch § 176 Abs 1 VersVG idgF insoweit als unionsrechtswidrig zu qualifizieren, als er für den Rücktritt und die Kündigung des Vertrags dieselben rechtlichen Wirkungen vorsieht, ohne dass es einer neuerlichen Befassung des EuGH bedürfte.
Der Rücktritt der Klägerin löst daher im vorliegenden Fall nicht die Rechtsfolgen nach § 176 Abs 1 iVm Abs 3 bis Abs 5 VersVG aus, sondern führt zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags. Die Klägerin hat somit Anspruch auf Rückzahlung der von ihr geleisteten Netto-Versicherungsprämien. Die vom Berufungsgericht aus dem Titel des Schadenersatzes der Klägerin zuerkannte Versicherungssteuer erfolgte im Einklang mit der höchstgerichtlichen Rechtsprechung (7 Ob 105/20x).
Anmerkungen
Aufgrund dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber § 176 VersVG neuerlich geändert. Ab 1.8.2022 steht nun in den Absätzen 1 bis 3:
(1) Wird eine Kapitalversicherung für den Todesfall, die in der Art genommen ist, dass der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers zur Zahlung des vereinbarten Kapitals gewiss ist, durch Rücktritt, Kündigung oder Anfechtung aufgehoben, so hat der Versicherer den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert zu erstatten.
(1a) Abs. 1 ist bei einem Rücktritt nach § 5c nicht anzuwenden.
(2) In den Fällen des Abs. 1 außer bei einem Rücktritt nach § 5c hat der Versicherer den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert auch dann zu erstatten, wenn nach dem Eintritt des Versicherungsfalls der Versicherer von der Verpflichtung zur Zahlung des vereinbarten Kapitals frei ist. Im Fall des § 170 Abs. 1 ist jedoch der Versicherer zur Erstattung des Rückkaufswerts nicht verpflichtet.
Siehe auch versdb 2022, 17 – https://versdb.com/