Geschäftsfähigkeit des VN bei qualifizierter Deckungsablehnung
Die qualifizierte Deckungsablehnung des § 12 Abs 3 VersVG ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Die von § 12 Abs 3 VersVG ausgelöste Frist ist eine Ausschlussfrist. Zur wirksamen Ingangsetzung dieser Frist bedarf es einer Zustellung der qualifizierten Deckungsablehnung an einen geschäftsfähigen Versicherungsnehmer.
Sachverhalt
Die Klägerin hat bei der Beklagten einen Lebensversicherugsvertrag-Ablebensversicherung, aus dem sie nach dem Selbstmord ihres Gatten im Juni 2019 Ansprüche geltend macht. Die Beklagte lehnte eine Versicherungsleistung ab und belehrte die Klägerin in diesem Schreiben über die Frist des § 12 Abs 3 VersVG.
Dieses Schreiben wurde der Klägerin einige Tage danach an der Anschrift der Ehewohnung zugestellt. Zwischen Juni bis etwa Ende Oktober 2019 litt die Klägerin an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung mit deutlich depressiver Symptomatik und schweren Schlafstörungen, die zu Einschränkungen in der Wahrnehmung und Überblicksgewinnung führte. Der Klägerin war daher die Tragweite der Ablehnungserklärung samt Klagsfrist, deren Ablauf zu einem Anspruchsverlust führt, nicht in einem Maße ausreichend bewusst, dass sie zweckentsprechend, vernünftig und umsichtig darauf reagieren hätte können.
Die Klägerin begehrte die Zahlung der Versicherungsleistung. Die Beklagte wendete – soweit hier relevant – Präklusion wegen Ablaufs der Frist des § 12 Abs 3 VersVG ein.
OGH-Entscheidung
Bei der Beurteilung, ob eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt die Tragweite bestimmter Willenserklärungen verstandesmäßig erfassen konnte oder ob ihr diese Fähigkeit durch eine die Handlungs- und Geschäftsfähigkeit ausschließende psychische Krankheit oder vergleichbare Beeinträchtigung fehlte, ist darauf abzustellen, ob eine Person die Tragweite eines konkreten Geschäfts und die Auswirkungen ihres Handelns abschätzen und dieser Einsicht gemäß disponieren kann. Da die gegenständliche Ablehnungserklärung der Beklagten in unmittelbarem Zusammenhang mit dem die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin auslösenden Ereignis gestanden hat, ist mit den Vorinstanzen davon auszugehen, dass die Klägerin jedenfalls in Bezug darauf zum Zeitpunkt der Zustellung dieses Schreibens nicht geschäftsfähig war.
Die qualifizierte Deckungsablehnung des § 12 Abs 3 VersVG ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung (RS0080201). Sie setzt – da sie dem Empfänger nicht nur Vorteile, sondern im Gegenteil bei Fristversäumung empfindliche Nachteile bringt – für einen wirksamen Zugang die Geschäftsfähigkeit des Empfängers voraus (RS0014102; zu einer Klagsfrist nach § 12 Abs 3 VersVG vgl 7 Ob 57/80). Ausgehend von der Geschäftsunfähigkeit der Klägerin zum Zeitpunkt der Zustellung der qualifizierten Deckungsablehnung ist diese der Klägerin folglich nicht wirksam zugegangen (vgl auch 7 Ob 57/80).
Die Beklagte argumentiert im Rahmen ihrer Revision, die durch die – ursprünglich unwirksam zugestellte qualifizierte Deckungsablehnung des § 12 Abs 3 VersVG – nicht ausgelöste Klagsfrist müsse gemäß § 1494 Abs 1 ABGB durch das Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit der Klägerin Anfang des Jahres 2020 in Lauf gesetzt werden.
Gemäß § 1494 Abs 1 ABGB beginnt für den Fall, dass eine volljährige Person aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit an der Durchsetzung ihrer Rechte gehindert ist, die Ersitzungs- oder Verjährungszeit erst zu laufen, wenn sie die Entscheidungsfähigkeit wieder erlangt oder ein gesetzlicher Vertreter die Rechte wahrnehmen kann.
Die von § 12 Abs 3 VersVG ausgelöste Frist ist eine Ausschlussfrist (RS0080317), auf die § 1494 ABGB sinngemäß anzuwenden ist (RS0034608 [T1]).
Hier ist nur die Klägerin als zum fraglichen Zeitpunkt geschäftsunfähig vom Schutzzweck des § 1494 Abs 1 ABGB umfasst. Die Beklagte kann sich demgegenüber auch nicht auf eine analoge Anwendung der Vorschrift des § 1494 Abs 1 ABGB berufen.
Die allgemeinen Voraussetzungen für den Beginn einer Verjährungs- oder Präklusivfrist bleiben im Übrigen von § 1494 Abs 1 ABGB unberührt. Die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen und die allgemeinen Voraussetzungen für den Beginn der jeweiligen Verjährungs- oder Präklusivfrist müssen daher für den Fristbeginn kumulativ vorliegen. Fehlt es schon an den allgemeinen Voraussetzungen für den Beginn der Frist, kann auch der spätere Wegfall des Hemmungsgrundes nach § 1494 Abs 1 ABGB nicht zum Ablauf der Frist führen. Zur wirksamen Ingangsetzung dieser Frist bedarf es einer Zustellung der qualifizierten Deckungsablehnung an einen geschäftsfähigen Versicherungsnehmer.
Wenn – wie hier – die Frist mangels einer wirksamen Zustellung gar nicht wirksam in Gang gesetzt wurde, kann sie auch nicht durch das bloße Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit der Klägerin zu laufen beginnen, fehlt es doch weiterhin an der wirksamen Zustellung als fristauslösendes Moment. Auch wenn daher zu einem späteren Zeitpunkt der davor geschäftsunfähige Versicherungsnehmer geschäftsfähig wird, ändert dies alleine noch nichts an der fehlenden wirksamen Zustellung.
Da die Klägerin nach den erstgerichtlichen Feststellungen die qualifizierte Deckungsablehnung nach Wiedererlangen ihrer Geschäftsfähigkeit nicht neuerlich zugestellt bekommen hat, hat die Klagsfrist wegen der Wirkungslosigkeit des fristauslösenden Ereignisses daher nie zu laufen begonnen.
Beitrag von Julia Loisl.