Satzungsdurchbrechung – Neues aus der Rechtsprechung

Satzungsdurchbrechung – Neues aus der Rechtsprechung

Verstößt ein Gesellschafterbeschluss gegen nicht gesetzlich zwingende, in der Satzung festgelegte Vorschriften, so ist der Beschluss nur anfechtbar. Konstellationen, in denen eine nicht anfechtungsberechtigte Person durch einen Beschluss geschädigt wird, sind denkbar. Der Beschluss kann idF uU aufgrund Sittenwidrigkeit nichtig sein. Ein kompetenzwidrig gefasster Beschluss zur Abberufung eines Geschäftsführers stellt keine zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung dar und ist somit lediglich anfechtbar.

I                Sachverhalt

Die Beklagte ist Hannover 96 Management GmbH, deren einziger Gesellschafter der Hannoverscher Sportverein von 1896 e.V. (im Folgenden: Verein) ist. Weiters ist die Beklagte Komplementärin der Hannover 96 GmbH & Co. KGaA (im Folgenden: KGaA). Eine KGaA ist eine sogenannte Kommanditgesellschaft auf Aktien. Diese ist eine eigene Rechtsform in Deutschland, bei der es wie bei der österreichischen KG unbeschränkt haftende Komplementäre gibt. Statt Kommanditisten gibt es jedoch sogenannte Kommanditaktionäre, die beschränkt mit ihren Aktien haften (sie sind damit mit den Kommanditisten der österreichischen KG vergleichbar). Diese KGaA unterhält den Spielbetrieb der bekannten deutschen Fußballmannschaft „Hannover 96“. Einzige Kommanditaktionärin an der KGaA ist Hannover 96 Sales & Service GmbH & Co. KG (im Folgenden: Sales & Services). Mehrheitskommanditist an dieser Gesellschaft ist wiederum M. GmbH, deren alleiniger Gesellschafter der Kläger war.  Der Kläger ist als Geschäftsführer der Beklagten im Handelsregister eingetragen.

Die Beklagte hat einen aus vier Mitgliedern bestehenden fakultativen Aufsichtsrat. Dieser ist der Satzung zufolge für die Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer zuständig.

Der Verein, die KGaA und die Sales & Service schlossen im Jahr 2019 eine Vereinbarung (Syndikatsvertrag; auch Hannover-96-Vertrag genannt), dass die Satzung der Beklagten nicht vor schriftlicher Zustimmung der Sales & Service geändert, ergänzt oder ersetzt werden dürfe. Weiters wurde festgehalten, dass die Sales & Service, vermittelt über den Aufsichtsrat der Beklagten, Mitentscheidungsrechte bei der Bestellung und Abberufung der Geschäftsführung der Beklagten habe, und der Erhalt dieser Rechte essentieller Bestandteil des Hannover-96-Vertrages sei.

In einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung im Jahr 2022 fassten Vertreter des Vereins einen notariell beurkundeten Beschluss über die Abberufung des Klägers als Geschäftsführer der Beklagten mit sofortiger Wirkung aus wichtigem Grund „im Wege eines satzungsdurchbrechenden Beschlusses“.

Der Kläger begehrt nun mit seiner Klage die Feststellung der Nichtigkeit des Beschlusses.

Das Erstgericht hat der Klage stattgegeben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit der erhobenen Revision an den BGH verfolgt die Beklagte die Abweisung der Klage.

II              Bundesgerichtshof

Der BGH befasste sich im Wesentlichen mit folgenden Fragen:

  1. Ist der Beschluss nichtig, weil er gegen das Wesen der GmbH verstößt (§ 241 Nr 3 dAktG per analogiam)?
  2. Verstößt der Beschluss gegen die guten Sitten und ist er aus diesem Grund entsprechend § 241 Nr 4 dAktG nichtig?
  3. Ist der Beschluss aufgrund zustandsbegründender Satzungsdurchbrechung nichtig?

1               Verstoß gegen das Wesen der GmbH?

Das Berufungsgericht führte in seiner Entscheidungsbegründung aus, dass der Beschluss nichtig sei, weil er einerseits kompetenzwidrig gefasst worden sei (und unter den Umständen des Streitfalles nicht bloß anfechtbar sei) und andererseits ein Verstoß gegen den Hannover-96-Vertrag, der eine Stimmrechtsbindung zugunsten Sales & Service enthalte, vorliege. Der Hannover-96-Vertrag sei zwar ein bloß schuldrechtlicher Vertrag, die gesonderte Durchsetzung der vertraglichen Verpflichtung, um das durch die Stimmrechtsbindung vorgegebene Ergebnis herbeizuführen, sei aber eine „unnötige Förmelei“. Es bestehe kein Grund, die stimmbindungswidrig überstimmten Gesellschafter auf den umständlichen Klagsweg gegen ihre Mitgesellschafter zu verweisen – auch, wenn die Vertragsparteien keine Gesellschafter seien.

1.1           Verstoß gegen Gesellschaftsvertrag

Der BGH widersprach dieser Ansicht:

Die Satzung der Beklagten sah vor, dass dem Aufsichtsrat die Kompetenz zur Abberufung des Geschäftsführers übertragen wurde. Diese Kompetenz kommt von Gesetzes wegen eigentlich der Gesellschafterversammlung zu (§ 45 Abs 2, § 46 Nr 5 dGmbHG). Fraglich war daher, ob ein Beschluss, der nur gegen die Satzung, nicht aber gegen zwingendes Recht verstößt, auch nichtig sein kann.

Dazu hielt der BGH fest, dass ein Gesellschafterbeschluss analog § 241 Nr 3 dAktG nur nichtig sei, sofern er mit dem Wesen der GmbH nicht vereinbar ist oder durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend dem Schutz von Gläubigern oder sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind. Demzufolge kann nur eine Verletzung der tragenden Strukturprinzipien des GmbH-Rechtes eine Nichtigkeit begründen.

Wenn ein Gesellschafterbeschluss aber gegen nicht gesetzlich zwingende, in der Satzung festgelegte Vorschriften im Zusammenhang mit der Kompetenzverteilung verstößt, dann sei der Beschluss lediglich anfechtbar. Im konkreten Fall verstößt der Beschluss daher jedenfalls nicht gegen die Strukturprinzipien.

1.2           Verstoß gegen Stimmbindungsvertrag

Die zweite Frage, die in diesem Zusammenhang beantwortet wurde, war jene, ob ein Verstoß gegen einen schuldrechtlichen Stimmbindungsvertrag einen nicht mit dem Wesen der GmbH zu vereinbarenden Beschluss darstellt und ob die Nichtigkeit vielleicht aus prozesswirtschaftlichen Erwägungen in Betracht zu ziehen sei.

Auch diese Erwägungen verneinte der BGH: Der Stimmbindungsvertrag sei ein bloß schuldrechtlicher Vertrag. Diese bloß schuldrechtliche Ebene sei von der Gesellschafts-Ebene (korporationsrechtliche Ebene) zu unterscheiden. Ein Stimmbindungsvertrag bindet ausschließlich die Vertragspartner. Ein Verstoß gegen diesen Vertrag löst keine Anfechtbarkeit des Beschlusses aus. Vielmehr ist der Streit um die Rechtsfolgen zwischen den Vertragsparteien auszutragen und nicht mit der Gesellschaft. Noch weniger gehört also ein solcher Stimmbindungsvertrag (bzw ein Verstoß gegen diesen) zu den tragenden Strukturprinzipien des GmbH-Rechts.

Auch die Überlegungen zur Prozessökonomie lehnt der BGH ab. Zwar hat der BGH bereits in einigen Fällen eine Anfechtbarkeit eines Beschlusses, der stimmbindungswidrig zustande kam, angenommen (II ZR 243/81, II ZR 240/85, II ZR 81/92), diesen Fällen lag aber stets ein von allen Gesellschaftern geschlossener Vertrag (in Österreich auch omnilateraler Syndikatsvertrag genannt) zugrunde. Im konkreten Fall sei der Stimmbindungsvertrag aber ua mit einem Nichtgesellschafter (nämlich Sales & Service) eingegangen worden. Insofern seien die Sachverhalte nicht vergleichbar. Überdies würde eine Anfechtbarkeit nichts über die behauptete Nichtigkeit eines Beschlusses aussagen. Die „unnötige Förmelei“ sei daher der einzige Weg für den Nichtgesellschafter, die schuldrechtliche Vereinbarung durchzusetzen.

2               Verstoß gegen die guten Sitten?

Das Berufungsgericht rechtfertigte eine Nichtigkeit des Beschlusses auch damit, dass dieser gegen die guten Sitten verstoße und somit nach § 241 Nr 4 dAktG nichtig sei.

Der BGH verwarf diese Ansicht und stellte fest, dass ein Beschluss nur nichtig iSd § 241 Nr 4 dAktG sein kann, wenn dessen Inhalt gegen die guten Sitten verstößt. Die Art des Zustandekommens kann die Sittenwidrigkeit nicht auslösen.

Auch liegt die Sittenwidrigkeit nicht darin, dass eine nicht anfechtungsberechtigte Person durch den Beschluss in sittenwidrige Weise geschädigt wäre, denn das Verhalten des Vereins (Unterlaufen der Kompetenzverteilung und Verstoß gegen den Hannover-96-Vertrag) ist dem BGH zufolge schon per se nicht sittenwidrig. Interessant ist jedenfalls, dass der BGH eine solche Konstellation (Sittenwidrigkeit wegen Schädigung einer nicht anfechtungsberechtigten Person durch einen Beschluss) nicht ausgeschlossen hat.

3               Satzungsdurchbrechung

Insbesondere für Österreich interessant ist diese Entscheidung aufgrund des letzten vom BGH behandelten Punktes, da die österreichische Literatur in diesem Punkt zum Teil auf die deutsche aufbaut. Hier befasste sich das Gericht mit sogenannten satzungsdurchbrechenden Beschlüssen.

Unter satzungsdurchbrechenden Beschlüssen werden Fälle verstanden, in denen „für den Einzelfall ein mit der Satzung nicht vereinbarer Beschluss gefasst wird, der jedoch nicht die Satzung ändern soll“ (Rauter/Milchrahm in Straube/Ratka/Rauter, WK GmbHG § 49 Rz 58 [Stand 1.12.2022, rdb.at]). Die Literatur untergliedert die Satzungsdurchbrechung weiter in:

  • punktuell wirkende Satzungsdurchbrechungen und
  • zustandsbegründende

Punktuell wirkende Satzungsdurchbrechungen wirken nur auf den konkreten „Beschluss-Fall“ (Einzelfall) und haben darüber hinaus keine „bleibende“ Wirkung. Als Beispiele in der Literatur werden hier genannt: erhöhte Gewinnausschüttung für ein Jahr (also von der Satzung abweichende Gewinnverwendungsbeschlüsse); die einmalige Befreiung vom Wettbewerbsverbot; einmalige Eingriffe in satzungsmäßige Aufsichtsratskompetenzen (s dazu Rauter/Milchrahm in Straube/Ratka/Rauter, WK GmbHG § 49 Rz 64/1 [Stand 1.12.2022, rdb.at]).

Zustandsbegründende Satzungsdurchbrechungen wiederum lösen eine Dauerwirkung aus. Höchst umstritten ist jedoch, welche Beschlüsse darunter fallen. Als Beispiele in der Literatur genannt werden hierzu (manche Autoren haben hier naturgemäß eine gegenteilige Meinung): Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern für eine die satzungsmäßige Höchstgrenze übersteigende Dauer oder ohne Einhaltung der durch die Satzung vorgegebenen Qualifikationserfordernisse; Bestellung eines ausländischen Geschäftsführers entgegen der Satzung, die nur Inländer vorsieht; generelle Befreiung vom Wettbewerbsverbot (s dazu Rauter/Milchrahm in Straube/Ratka/Rauter, WK GmbHG § 49 Rz 64 [Stand 1.12.2022, rdb.at]).

Die Unterscheidung in diese Kategorien wird jedoch auch kritisiert: Eine Abgrenzung sei schwer möglich. Diese Ansicht bestätigt sich, wenn man die Literatur zu dieser Thematik sichtet. Manche Autoren stufen bestimmte Beschlüsse als bloß punktuelle Satzungsdurchbrechung ein und andere als zustandsbegründende (und vice versa).

Nach der bisherigen Literatur und Rechtsprechung ergibt sich zur Zulässigkeit dieser satzungsdurchbrechenden Beschlüsse Folgendes:

  • Beschlüsse, die eine bloß punktuelle Satzungsdurchbrechung bewirken, sind anfechtbar. Stimmen jedoch alle Gesellschafter dem Beschluss zu, so soll die Anfechtbarkeit entfallen. (Rauter/Milchrahm in Straube/Ratka/Rauter, WK GmbHG § 49 Rz 66 [Stand 1.12.2022, rdb.at])
  • Beschlüsse, die eine zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung auslösen, werden wiederum als nichtig Begründet wird dies mit dem Schutz des Rechtsverkehrs. Satzungen von Kapitalgesellschaften sind grundsätzlich im Firmenbuch einsehbar. Wird also nun mit einem Beschluss ein dauernder Zustand geschaffen, der von der Satzung abweicht, so ist dies nicht aus dem Firmenbuch ersichtlich: Der materielle Satzungsinhalt wird nicht richtig und vollständig abgebildet (Rz 44 der Entscheidung). Jedoch existieren auch hier abweichende Meinungen. (Rauter/Milchrahm in Straube/Ratka/Rauter, WK GmbHG § 49 Rz 67 [Stand 1.12.2022, rdb.at])

Der BGH musste nun entscheiden, ob der Abberufungsbeschluss, der kompetenzwidrig gefasst wurde (1.) eine punktuelle oder zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung darstellt und (2.) welche Rechtsfolgen daran geknüpft sind:

Grundsätzlich schloss sich der BGH den obigen Ausführungen an und bekräftigte, dass es zwei Kategorien von satzungsdurchbrechenden Beschlüssen gibt, mit jeweils unterschiedlichen Rechtsfolgen. Bemerkenswert sind jedoch die Ausführungen zur Einstufung als punktuell bzw zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung: Der BGH qualifizierte den vorliegenden Beschluss als bloß punktuelle Satzungsdurchbrechung. Der Beschluss würde keinen von der Satzung abweichenden rechtlichen Zustand begründen. Vielmehr betrifft die Verletzung der Satzung das Zustandekommen des Beschlusses. Diese Verletzung erledigt sich mit der Bekanntgabe an den Geschäftsführer. Eine zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung würde vielmehr nur dann vorliegen, wenn der Beschluss eine fortwirkende Regelung statuieren würde – mit anderen Worten „eine in Konkurrenz zur bisherigen Satzung tretende Regelung“ geschaffen wird (so Leuschner in einem LinkedIn Post). Kritisiert daran wird, dass dies eigentlich kein Fall der Satzungsdurchbrechung sei, sondern ein Fall der Satzungsänderung, der nur unter Einhaltung der dafür bestehenden Formalia wirksam sein kann (so Leuschner).

Die Differenzierung in punktuelle und zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung wird demnach (mit Blick auf die bisherigen Beispiele; s dazu oben) scheinbar aufgegeben und alle Satzungsdurchbrechungen als bloß punktuell eingestuft (weil keine fortwirkende Regelung statuierend)– mit der Rechtsfolge, dass diese wirksam und bloß anfechtbar sind (so Leuschner).

Ob der BGH diese Wirkung tatsächlich herbeiführen wollte, wird sich erst in späterer Rechtsprechung zeigen. Auch wird die Entscheidung sicherlich für reichlich Gesprächsstoff in der deutschen und auch österreichischen Literatur sorgen.

III           Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick

 

  • Verstößt ein Gesellschafterbeschluss gegen nicht gesetzlich zwingende, in der Satzung festgelegte Vorschriften im Zusammenhang mit der Kompetenzverteilung, so ist der Beschluss lediglich anfechtbar.
  • Konstellationen, in denen eine nicht anfechtungsberechtigte Person durch einen Beschluss geschädigt wird, sind durchaus denkbar. In diesem Fall kann der Beschluss uU aufgrund Sittenwidrigkeit nichtig sein.
  • Ein kompetenzwidrig gefasster Beschluss zur Abberufung eines Geschäftsführers stellt keine zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung dar. Der Beschluss ist somit lediglich anfechtbar.

Blog-Beitrag gemeinsam erstellt mit Paul Moik.

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