Verkehrssicherungspflichten auf Baustellen
Wer eine Gefahrenquelle schafft, muss zumutbare Vorkehrungen treffen, um Schädigungen abzuwenden – selbst wenn keine baurechtliche Verpflichtung dazu besteht (Verkehrssicherungspflicht). Dies gilt auch für Bereiche, die nicht der Allgemeinheit zugänglich sind (zB Baustellen). Wird gegen die Verkehrssicherungspflichten verstoßen, so ist ein Mitverschulden des Verunfallten anzunehmen, wenn die Gefahr erkennbar war.
Sachverhalt
Der Erstbeklagte wollte für seine Skischule ein Gebäude errichten. Dazu beauftragte der Erstbeklagte die Zweitbeklagte – eine Bauunternehmerin – mit Materiallieferungen und Arbeitsleistungen unter anderem im Zusammenhang mit der Dachkonstruktion. Der Drittbeklagte ist einerseits der Schwager des Erstbeklagten und andererseits Dienstnehmer der Zweitbeklagten. Dieser half dem Erstbeklagten im Rahmen seines Dienstverhältnisses und auch im Rahmen der Verwandtschaftshilfe.
M. ist der Onkel des Erstbeklagten und Vertragsbediensteter der Klägerin, einer Stadtgemeinde. M. half dem Erstbeklagten ebenfalls im Rahmen der Verwandtschaftshilfe auf der Baustelle mit. Dazu begab er sich aus nicht mehr feststellbaren Gründen auf das in Errichtung befindliche, nicht ausreichend abgesicherte Dach und stürzte von dort ab. Dabei verletzte er sich schwer und blieb dauerhaft beeinträchtigt.
Die Klägerin erbrachte als Arbeitgeberin sowie Trägerin der Krankenfürsorgeanstalt der Magistratsbediensteten, bei der der Verunfallte krankenversichert war, Leistungen und ließ sich die Ansprüche des Verunfallten abtreten.
Die Klägerin begehrte nun von den Beklagten den Ersatz ihrer bereits erbrachten und zukünftigen Leistungen (etwa 220.000 €).
Vorinstanzen
Das Berufungsgericht bestätigte die Ansicht des Erstgerichts, welches zwar eine Haftung des Erstbeklagten für die erbrachten und zukünftigen Leistungen wegen Verletzung seiner allgemeinen Verkehrssicherungspflicht als Bauherr bejahte, aber gleichzeitig ein gleichteiliges Mitverschulden des Verunfallten annahm.
Eine Haftung der Zweitbeklagten verneinten die Vorinstanzen übereinstimmend: Der Verunfallte war nicht bei der Zweitbeklagten beschäftigt und keine ihr zurechenbare Person wusste von Arbeiten durch freiwillige Helfer auch am Wochenende.
Auch der Drittbeklagte sei am Unfalltag nicht als Bauleiter der Zweitbeklagten tätig gewesen, sondern habe bloß privat mitgeholfen, sodass die Zweitbeklagte, sowie ihn persönlich, keine Haftung treffe.
Oberster Gerichtshof
Sowohl die Klägerin als auch der Erstbeklagte erhoben außerordentliche Revision gegen die Entscheidung des Berufungsgerichtes.
Revision des Erstbeklagten und dessen Haftung
Zunächst stellte der OGH fest, dass derjenige, der eine Gefahrenquelle schafft, nach allgemeinen Grundsätzen notwendige Vorkehrungen treffen muss, um eine Schädigung abzuwenden (vgl RS0022778; „Verkehrssicherungspflicht“).
Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung selbst für Orte und Situationen, die nicht der Allgemeinheit zugänglich sind, sondern bloß einem beschränkten Verkehr (zB Baustelle [RS0023355] oder freiwillige Hilfe in Eigenregie [vgl 5 Ob 116/04a]). Wenn nach den Erfahrungen des alltäglichen Lebens eine naheliegende und voraussehbare Gefahrenquelle besteht, so hat der Inhaber einer Anlage die zur Gefahrenabwehr notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, auch wenn er nach baurechtlichen Vorschriften nicht dazu verpflichtet wäre und auch sonst alle Genehmigungen vorliegen (RS0023437 [T3]; vgl RS0023419).
Der Verunfallte äußerte, dass er mangels Schwindelfreiheit nicht auf das Dach steigen würde. Eine Haftung besteht jedoch auch, wenn jemand ohne Gestattung in den fremden (gefährlichen) Bereich eingedrungen ist. Insbesondere wenn die Möglichkeit besteht, dass Personen versehentlich in den Gefahrenbereich gelangen, oder dass Kinder und andere Personen, die nicht die nötige Einsichtsfähigkeit haben um sich selbst vor Gefahren zu schützen, oder aber eine große, ganz unerwartete Gefahr besteht, so kann eine Interessenabwägung ergeben, dass der Inhaber dennoch zumutbare Maßnahmen zur Gefahrenabwehr treffen muss (RS0114361).
Da das Betreten des Daches in diesem Fall nie ausdrücklich verboten wurde und überdies nicht klar ist, ob allen freiwilligen Helfern die Gefahr bei Dacharbeiten bekannt war, ist die Rechtsansicht der Vorinstanzen vertretbar, dass der Erstbeklagte mit einem Betreten des Gefahrenbereiches durch Laien im Rahmen der Verwandtschaftshilfe rechnen musste. Er hätte deshalb zumutbare Sicherungsmaßnahmen setzen müssen (jedenfalls zB ausdrücklich warnen und das Betreten verbieten).
Die Haftung des Erstbeklagten besteht daher zu Recht.
Zur Frage der Haftung der Zweitbeklagten
Zunächst führte der OGH aus, dass eine Haftung der Zweitbeklagten nicht schon deswegen ausgeschossen sein kann, weil der Verunfallte kein Arbeitnehmer war und auch sonst kein Vertragsverhältnis bestand. Auch die Zweitbeklagte könnten Verkehrssicherungspflichten treffen. Die Zweitbeklagte bot auch diverse Schutzmaßnahmen sowie eine Bauleitung und Baustellenkoordination an, die jedoch nicht beauftragt wurden.
Auch musste die Zweitbeklagte (bzw deren Geschäftsführer) nicht davon ausgehen, dass über das Wochenende am Dach unter Mitwirkung von Laien weitergearbeitet werden sollte. Die Zweitbeklagte musste daher weder Absicherungen durchführen, noch Warnungen aussprechen – vielmehr konnte sie auf die Eigenverantwortung des Bauherren vertrauen.
Zur Haftung des Drittbeklagten
Der Drittbeklagte war am Unfalltag privat im Rahmen der Verwandtschaftshilfe bzw gegen direkte Bezahlung am Bau tätig. Er war dabei gerade nicht als Bauleiter tätig und beaufsichtigte nicht die Baustelle bzw den Verunfallten. Er hatte überdies keine Kenntnis über die Tätigkeiten des Verunfallten. Warum ihn trotzdem eine Eigenhaftung treffen soll, ließ die Revision offen.
Revision der Klägerin
In der Revision der Klägerin beschäftigte sich der OGH insbesondere mit der Frage des Mitverschuldens des Geschädigten. Dabei stellte der OGH fest, dass bei sogenanntem „unechtem Handeln auf eigene Gefahr“ – wenn also den Gefährder Schutzpflichten treffen (wie in diesem Fall), eine etwaige Selbstgefährdung durch den Verunfallten nur im Rahmen des Mitverschuldenseinwandes zu prüfen ist.
Nach ständiger Rechtsprechung liegt ein solches Mitverschulden bei Verletzung von Verkehrssicherungspflichten nur vor, wenn ein sorgfältiger Mensch rechtzeitig Anhaltspunkte für die Gefahr sowie die Möglichkeit hatte sich darauf einzustellen. Erkennbaren Gefahren muss daher ausgewichen werden (vgl RS0023704).
Die Annahme der Vorinstanzen, dass sich der Verunfallte als Laie (noch dazu ohne offensichtlichen Grund) in einen erkennbar gefährlichen Bereich begab und ihn deshalb ein Mitverschulden trifft, ist daher nicht korrekturbedürftig.
Blog-Beitrag gemeinsam erstellt mit Paul Moik.