Bauwerkshaftung und Entlastungsbeweis
In der gegenständlichen Entscheidung befasst sich der OGH mit der Haftung des Besitzers eines Bauwerks für Schäden, die durch herabfallende Bauwerksteile verursacht wurden. Insbesondere geht es um den Entlastungsbeweises. Der Besitzer eines Bauwerks kann sich nämlich von seiner Haftung für verursachte Schäden nur dann befreien, wenn er den Beweis erbringen kann, die zur Abwehr der Gefahr erforderliche Sorgfalt aufgewendet zu haben. Dem Bauwerksbesitzer gelang dies in der folgenden Entscheidung nicht.
Sachverhalt
Die Beklagte ist seit 1995 Eigentümerin zweier aneinander angrenzender Liegenschaften, auf denen sich ein weitläufiger Gebäudekomplex befindet. Um das Jahr 1930 war auf einer der Liegenschaften eine Wasserkraftanlage errichtet und für ihren Betrieb der über beide Liegenschaften fließende Bach durch einen unterirdischen Kanal (eine „Verrohrung“) geleitet worden. Beim Beginn der unterirdischen Führung besteht er aus einem von einem Ziegelgewölbe überdeckten Gerinne und am Ende (beim Austritt des Bachs östlich der Liegenschaften der Beklagten) aus einem Betonrohr.
Der Kläger ist seit Februar 2019 Pächter der gewässerabwärts gelegenen Fischereireviere des Bachs.
Anfang November 2019 wurde der Kanal durch eine vom Ziegelgewölbe herabgefallene Betonplatte verstopft, was gewässerabwärts zum Austrocknen des Bachs führte.
Das Ziegelgewölbe des Kanals ist mittlerweile akut einsturzgefährdet. Der Kanal ist deshalb nur mehr unter Gefahr begehbar. Die Beurteilung des Bauzustands der Überdeckung des Gerinnes ist einem Laien daher nicht möglich. Es besteht jedoch die Möglichkeit, durch ein Spezialunternehmen eine Befahrung des Kanals mit einer schwimmfähigen Kamera vorzunehmen, was Kosten von rund 25.500 EUR verursachen würde. Damit hätte zwar keine vollständige Erfassung des Bauzustands gewährleistet werden können, es wäre aber zumindest im befahrbaren Bereich des Kanals die Gefahr eines Einsturzes erkennbar gewesen.
Seit 1957 fand keine Überprüfung des Bauzustandes der den Bach überdeckenden Bauwerke mehr statt.
Mit seiner Klage begehrt der Kläger 15.061,10 EUR von der Beklagten. Der abgestürzte Betonteil habe den Kanal verstopft, was zum Austrocknen des Bachs und in der Folge zu einem massiven Fischsterben geführt habe. Für die dadurch entstandenen Schäden hafte die Beklagte nach § 1319 ABGB (Bauwerkhaftung).
Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage und wandte im Wesentlichen ein, die Gefahr, dass sich ein großer Teil in der Verrohrung lösen und den Kanal verstopfen könne, sei weder erkennbar noch zu erwarten gewesen. Denn seit dem Erwerb der Liegenschaft(en) im Jahr 1995 habe sie nie beobachtet, dass die Verrohrung unter den Gebäuden in irgendeiner Form verstopft gewesen wäre. Es könne von ihr auch nicht verlangt werden, in die enge und durch Gärgase potentiell lebensgefährliche Verrohrung zu kriechen, um den Zustand des Kanals zu prüfen. Da eine Servicierung des Kanals mit einfachen Mitteln nicht möglich sei, sei der Vorwurf, sie habe mögliche und zumutbare Vorkehrungen nicht getroffen, unberechtigt. Abgesehen davon wäre der Bach wenige Monate nach der Verstopfung des Kanals ohnehin von selbst nahezu völlig ausgetrocknet und ein allfälliger Fischbestand verendet.
Das Erstgericht sprach aus, dass das Klagebegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe. Das Berufungsgericht wies die Klage hingegen ab.
Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den Sorgfaltsanforderungen eines Liegenschaftseigentümer an die Kontrolle des Bauzustands eines unterirdischen Kanals vorliege.
Auch der OGH bejahte die Zulässigkeit, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu § 1319 ABGB abwich. Sie war aus diesem Grund auch berechtigt.
Rechtsansicht des OGH
Der Kläger stützt sich ausschließlich auf § 1319 ABGB als Anspruchsgrundlage.
Im Revisionsverfahren war zum Anspruchsgrund nur mehr strittig, ob der Beklagten der Entlastungsbeweis gelang (Ansicht der Beklagten) oder nicht (Standpunkt des Klägers). Die grundsätzliche Haftung der Beklagten nach § 1319 ABGB wurde in den Rechtsmittelschriften nicht mehr thematisiert und war daher auch nicht zu prüfen.
Nach ständiger Rechtsprechung stellt § 1319 ABGB auf einen objektiven Sorgfaltsbegriff ab und normiert eine Gefährdungshaftung, von der sich der Besitzer nur durch den Beweis befreien kann, alle zur Abwehr der Gefahr erforderliche Sorgfalt aufgewendet zu haben (RS0116783 [insb T1]; RS0023525 [T12, T14]). Vom Besitzer sind dabei jene Schutzvorkehrungen zu verlangen, die vernünftigerweise nach der Verkehrsauffassung zu erwarten sind (RS0030049; RS0030035 [insb T9]). Die Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfaltspflicht setzt aber jedenfalls die Erkennbarkeit oder doch Voraussehbarkeit der Gefahr voraus (RS0030035 [T12]; RS0030204; RS0023525).
Der Umstand, die Beklagte habe den Mangel als bautechnischer Laie nicht erkennen können, weshalb sie nicht zu Schutzmaßnahmen verpflichtet gewesen sei, hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Diese Auffassung bedeutet in letzter Konsequenz nämlich, dass in der hier vorliegenden Konstellation eine Haftung (zumindest für den ersten Schadenseintritt) immer ausscheidet. Konnte der Besitzer einen Mangel nicht erkennen und auch nicht voraussehen, ist der Entlastungsbeweis vielmehr erst dann erbracht, wenn ein Fachmann mit einer gebotenen (periodischen) Überprüfung des Werkes betraut wurde (7 Ob 26/11s; 4 Ob 2334/96f; vgl RS0023835). Ob eine fachmännische Überprüfung geboten ist, richtet sich danach, welche Vorkehrungen und Kontrollen ein sorgfältiger Besitzer getroffen hätte, wobei auch die Größe und die Schwere der drohenden Gefahr zu berücksichtigen sind (RS0030049 [T4, T9]; 9 Ob 29/21m). Auf jede erdenkliche außergewöhnliche Möglichkeit ist zwar nicht Bedacht zu nehmen. Dem Besitzer ist aber eine der allgemeinen Erfahrung entsprechende Voraussicht drohender Gefahren zumutbar (SZ 25/68; vgl RS0029991). Die Anforderungen an den Besitzer sind dabei umso höher, je älter (vgl 5 Ob 118/19t; Terlitza, Die Bauwerkehaftung, 271), schadensgeneigter (vgl 2 Ob 243/14w) oder anfälliger ein Werk für Witterungseinflüsse ist (RS0030322). Zwar können nach diesen Grundsätzen unter Umständen auch bloße Sicht- oder „Rüttelkontrollen“ ausreichen, wenn Mängel mit freiem Auge nicht erkennbar sind (zuletzt etwa 9 Ob 29/21m; 5 Ob 118/19t; 1 Ob 11/19b ua). Eine (regelmäßige) fachmännische Kontrolle ist nach der Rechtsprechung aber immer dann notwendig, wenn konkrete Anzeichen wie etwa ein schlechter Bauzustand, ein bekannter Mangel oder ähnliche Umstände vorliegen, die ein Baugebrechen vermuten lassen (1 Ob 334/99w; 6 Ob 20/98d [undichtes Dach]; RS0021300; vgl auch RS0030135), oder wenn ein Teil des (Bau-)Werks von vornherein eine beschränkte Lebensdauer hat und daher regelmäßig zu erneuern ist (5 Ob 150/06d).
Im vorliegenden Fall war der Kanal im Zeitpunkt der Verstopfung fast 90 Jahre alt. Seit mehr als 60 Jahren wurde sein Bauzustand nicht überprüft. Die Beklagte hat auch nicht behauptet, dass sie oder ihr Rechtsvorgänger irgendwelche Erhaltungs- oder Instandhaltungsmaßnahmen gesetzt hätten, obwohl der Kanal der Witterung ausgesetzt ist und seine sichtbaren Teile erkennbar baufällig und sanierungsbedürftig sind. Angesichts dessen kommt es nicht darauf an, ob die Möglichkeit eines Absturzes von Teilen der unterirdischen Überdeckung des Gerinnes „von außen“ wahrnehmbar ist oder nicht, weil die Beklagte bei dieser Ausgangslage zur Kontrolle auch der nicht einsehbaren (unterirdischen) Bereiche des Kanals und erforderlichenfalls zu ihrer Instandhaltung verpflichtet gewesen wäre. Es ist nämlich keineswegs ungewöhnlich, wenn sich nach annähernd 90 Jahren Teile aus der Überdeckung eines unterirdischen Wasserlaufs lösen und in das darunterliegende Gerinne stürzen. Diese Gefahr muss auch einem bautechnischen Laien bewusst sein, der dagegen Vorkehrungen zu treffen hat und nicht (völlig) untätig bleiben darf. Das Unterlassen jeglicher (fachmännischer) Untersuchung eines rund 90 Jahre alten und – jedenfalls in seinen sichtbaren Teilen – offenkundig sanierungsbedürftigen Kanals entspricht daher nicht dem Verhalten, das von einem sorgfältig agierenden Besitzer erwartet werden kann.
Daran ändern auch die vom Berufungsgericht ins Treffen geführten hohen Kosten einer gefahrlosen Prüfung durch einen Fachmann (mittels schwimmfähiger Kamera) nichts.
Dem Beklagten gelang der Entlastungsbeweis daher nicht. Der Revision des Klägers war daher Folge zu geben und das Urteil des Erstgerichts wieder herzustellen.